Unter dem Motto „Positiv Erleben“ feierte die Berliner Aidshilfe gestern im Tipi am Kanzleramt ihr 30jähriges Bestehen. Meine Teampartnerin Susanne Diehm und ich hatten das Glück, unter den Gästen sein zu dürfen. „Positiv Erleben“ bedeutete für uns zunächst, einen dieser ganz besonderen Augenblicke erleben zu können, die uns die Mischung unserer Auftraggeber beschert. Für die Berliner Aidshilfe bieten wir von SUDIJUMI Gesundheitsförderndes Kreatives Schreiben (GKS) für HIV positive Frauen an, was uns – ganz nebenbei bemerkt – dank unserer großartigen Teilnehmerinnen bei jedem der wöchtentlichen Schreibtreffen Glücksmomente beschert.
„Positiv Erleben“ durften wir gestern auf ganz vielfältige Weise. Da war zunächst der beeindruckende Rückblick auf 30 Jahre Berliner Aidshilfe, den Kuratoriumsmitglied Annabelle Mandeng mit Esprit und Witz moderierte. Statt langatmiger Reden gab es prägnante Wertschätzung aus der Politik, lebendige Erfahrungsberichte, kurze Filmeinspielungen, eine anregende Kurzdiskussion und großartige Showeinlagen der „Briefs“ die derzeit mit ihrer Show im Tipi gastieren. Nicht zu vergessen die kulinarischen Genüsse.
Doch das Beste Erlebnis war die Atmosphäre, die an diesem Abend im Tipi herrschte: Ungezwungen, offen, freundlich und „bewegt“. Eine positive Energie begleitete die Berichte über die Anfangsjahre und die Herausforderungen der Gegenwart. 30 Jahre Berliner Aidshilfe – 30 Jahre überwiegend ehrenamtliche Arbeit.
Für mich lautet die wichtigste Botschaft dieses Abends, dass man unendlich viel erreichen kann, wenn man es wirklich möchte.
Denn die Gründungsidee entstand auf einem Sofa, damals in den 80er Jahren, als die ersten Krankheits- und Todesfälle die Republik erschütterten und Medienthema Nr.1 waren. „Man müsste mal was tun – für die Betroffenen, aber auch für die Aufklärung und gegen die Diskriminierung von Erkrankten“. Eine handvoll Menschen hat es einfach getan. Beeindruckender als jede noch so tolle Show ist es zu erleben, was man mit viel persönlichem Einsatz erreichen kann. Das ermutigt.
Heute ist die Aidshilfe eine etablierte Größe in der gesundheitspolitischen Landschaft der Stadt, steht unter der Schirmherrschaft des regierenden Bürgermeisters und hat landesweit Zeichen gesetzt, politisches Handeln angestoßen.
In Deutschland muss heute niemand mehr an AIDS sterben. Dank der Verfügbarkeit von Medikamenten ist aus der Krankheit, die in den 80er Jahren ein sicheres Todesurteil bedeutete, eine chronische Krankheit geworden. Entwarnung ist dennoch nicht angesagt. Immer noch sterben Menschen an einer HIV-Infektion. Gestern habe ich gelernt, dass man dabei von dem „Neuen Aids“ spricht. Ich würde es eher „soziales Aids“ nennen, denn die Probleme, die damit verbunden sind, haben viel mit Gleichgültigkeit, Ressourcenverteilung und Vorurteilen zu tun, viel weniger mit der Krankheit an sich. Gefährdet sind heute besonders Jugendliche, ältere Frauen, Migranten und Flüchtlinge.
Die Jugendlichen, weil für sie die Krankheit kaum noch präsent ist, seit die Medienkarriere des Erregers vorbei ist. Viele junge Menschen sind weder über die Krankheit informiert, noch wissen sie, wie man sich vor Ansteckung schützt.
Frauen über 50 wird gern die sexuelle Aktivität abgesprochen. Auch das kann ein tödliches Vorurteil sein. Ärzte neigen dazu, bei dieser Gruppe die Symptome einer Infektion (die übrigens schon lange zurückliegen kann) zu übersehen.
EU-Bürger, die in unserer Stadt leben, aber nicht krankenversichert sind, haben kein Anrecht auf Behandlung, ebenso wie illegale Migranten oder Flüchtlinge. Hier ist es ein Segen, dass es in der Stadt Ärzte gibt, die auf rein menschlicher Grundlage behandeln – auf eigene Kappe. Auch das ist Ehrenamt, weil gelebte Menschlichkeit.
Und nach wie vor müssen sich Menschen fürchten, offen mit ihrer Krankheit umzugehen. Ausgrenzung, beruflich wie privat, ist immer noch ein Thema.
Gegen die Gleichgültigkeit
„Positiv Erleben“ bedeutet für mich, dass an einem Abend wie diesem sichtbar gemacht wird, dass der Widerstand gegen Gleichgültigkeit, Vorurteile und Rassismus ein Gegengewicht hat in unserer Gesellschaft.
Die Aidshilfe ist dafür ein Beispiel. Nur 18 Vollzeitmitarbeitern und 11 Teilzeitkräften stehen 200 Ehrenamtliche gegenüber, die informieren, Kranke besuchen, weiterbilden und viel praktische Hilfe leisten. Und sie erreichen etwas mit ihrem Tun – nur darüber wird viel zu selten berichtet.
Wir, SUDIJUMI, finden, das schreit geradezu nach einem Schreibprojekt mit vielen persönlichen Geschichten von Ehrenamtlichen und Betroffenen – aber das ist ein anderes Thema. (Sorry, liebe Leser, das ist die „Berufskrankeit von Menschen, die für die Entwicklung von Schreibprojekte brennen!)
Aber: So toll ehrenamtliches Engagement ist, so viel es dem Ehrenamtlichen emotional wiedergibt, weil menschliche Begegnungen immer wieder eine Lebensbereicherung sind – noch besser wären mehr bezahlte Arbeitsplätze im sozialen Bereich! Denn, auch das darf man nicht vergessen, manch ein Ehrenamtlicher kann sich nur deshalb engagieren, weil er keinen (festen) Job hat. Und doch: Menschen, die sich nicht hängen lassen, sondern das Beste aus ihrer Situation machen, indem sie anderen helfen, verdienen Wertschätzung und Respekt.
„Positiv Erleben“: Veränderungswillen, Engagement und Ausdauer können viel bewirken. Egal wie und auf welchem Feld wir uns engagieren, die Mechanismen sind die gleichen. Manchmal braucht es dafür einen sehr langen Atem. Auch nach 30 Jahren gibt es verdammt viel zu tun, in jedem und für jedes einzelne Leben. Man muss es einfach tun!