Raus aus der Stigmatisierung!

Mit „Dr. Psych´s Ratgeber Borderline“ machen sich Sandra Maxeiner und Hedda Rühle für psychisch Kranke stark

Nirgendwo zugehörig, wertlos und im Extremfall ohne Existenzberichtigung fühlen sich Menschen, die es nicht schaffen „einfach gut drauf“ zu sein und den gängigen Erwartungen zu entsprechen. Ihre Umwelt reagiert ablehnend und verständnislos auf heftige Gefühlsausbrüche, scheinbar unerklärliche Traurigkeit, Sprunghaftigkeit, übergriffiges oder aggressives Verhalten, das sich gegen die eigene Person oder nahestehende Menschen richtet. Menschen, die an einer Borderline-Erkrankung leiden, kämpfen in der Regel mit mehreren Symptomen und Folgen traumatischer Erlebnisse gleichzeitig.

Mit ihren Büchern möchten die Autorinnen Sandra Maxeiner und Hedda Rühle dazu beitragen, psychische Erkrankungen aus der Stigmatisierung heraus zu holen und ein breiteres Verständnis für deren Hintergründe zu vermitteln. Das Besondere: Es wird nicht über die Köpfe der Patient*innen und deren Symptome hinweggeschrieben. Basierend auf ausführlichen Interviews geben die Autorinnen den Menschen eine Stimme, und damit ein wichtiges Stück Menschenwürde und Bedeutsamkeit. Denn eine Grunderfahrung aller Betroffenen ist es, aufgrund ihrer Erkrankung immer wieder abgewertet zu werden.

So erfahren die Lesenden zunächst, wie sich die Krankheit anfühlt, welche Herausforderungen sie im Alltag mit sich bringt und können eine Vorstellung davon entwickeln, warum sich Borderliner besonders anstrengen müssen, um die Krankheit zu beherrschen, bzw. ihr Leben aktiv in die Hand zu nehmen.

Wissenschaftlich fundiert und basierend auf langjähriger Erfahrung vermittelt die Psychologin und erfahrene Therapeutin Hedda Rühle zunächst, was sich hinter dem Begriff „Psychotrauma“ verbirgt und wie Psychotraumata entstehen. „Dr. Psych“ und seine Helfer, freundliche Comicfiguren, unterstützen den Leser bei der Orientierung in dem rund 450 Seiten umfassenden Werk. Die Vermittlung komplizierter Sachverhalte geschieht in einer für Laien leicht verständlichen Sprache und mit reichhaltigen Metaphern, die helfen, selbst schwierige Zusammenhänge nachzuvollziehen und im Gedächtnis festzuhalten.

Rühle vertritt die These, dass Borderline kein isoliertes Krankheitsbild ist, sondern eine Summe von Symptomen, die durch mindestens ein oder mehrere Traumata ausgelöst wurden. Ihre Definition ist einleuchtend, denn Erfahrungen wie Vernachlässigung im frühen Kindesalter, sexueller Missbrauch, Abhängigkeiten aller Art lassen sich in unterschiedlichen Kombinationen in beinahe jeder Borderliner-Biografie finden. Es ist ein sehr pragmatischer Ansatz, der es ermöglicht, mit der Behandlung von Traumafolgen zu beginnen, ohne lange in der Bearbeitung von Kindheitserfahrungen zu verharren.

Die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit ist relativ

Als wichtig für die Auflösung von Vorurteilen gegen psychisch Kranke finde ich die Erkenntnis, dass die meisten Menschen im Laufe des Lebens mit kleineren oder größeren Traumata konfrontiert werden. Trennungen, der Tod eines geliebten Menschen, eine schwere Erkrankung – all das und nicht nur die „große Themen“ wie Krieg und Gewalt – sind traumatisch. Der Unterschied zwischen „Kranken“ und „Gesunden“ liegt letztendlich in der Fähigkeit, belastende Erlebnisse in die Biografie zu integrieren, bzw. im Ausmaß an Resilienz – der psychischen Widerstandsfähigkeit – die ein Mensch mitbringt oder sich im Laufe seines Lebens aneignet. Denn das ist Dank der Neuroplastizität des Gehirns immer möglich.

Die ausführliche Beschreibung der therapeutischen Grundsätze und Vorgehensweisen sowie die Anregungen zur Selbsthilfe nach einer Borderline-Diagnose habe ich nicht nur als aufschlussreich empfunden, sondern auch als inspirierend für meine eigene Arbeit.  Immer wieder treffe ich auf Menschen, die mit belastenden Lebenssituationen umgehen müssen. Schreiben ist eine Möglichkeit, sich konstruktiv damit auseinanderzusetzen. Deshalb habe ich mich gefreut, dass in der Borderline-Therapie auch mit dem Medium Schreiben gearbeitet wird.
Gemessen an den Möglichkeiten, die Gesundheitsförderndes Kreatives Schreiben bietet, denke ich jedoch, dass besonders im Bereich der Selbsthilfe noch viele Möglichkeiten ungenutzt sind.

Dr. Psych´s Ratgeber Borderline informiert und berührt gleichermaßen. Durch die lebendige Einbeziehung von Erlebnisberichten und die Illustration mit Zeichnungen von Katja P., die sich auf diese Erlebnisse beziehen, werden die Lesenden gleichermaßen kognitiv wie emotional angesprochen. Ich würde mir wünschen, dass diese Art der Wissensvermittlung auch auf anderen Ebenen der Sozial- und Humanwissenschaften Schule machen würde, denn ich glaube, erst echte Empathie für die Betroffenen führt dazu, Vorurteile abzubauen.

Sandra Maxeiner, Hedda Rühle: Dr. Psych´s Ratgeber Borderline, Zollikon 2018: Jerry Media Verlag, ISBN 978-3952 367 285

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