Netze der Verbundenheit spannen – ein Praxisbeispiel

Es gibt eine wunderbare Erfahrung, die ich bei meiner Arbeit immer wieder mache, ganz gleich ob es sich um Gruppen mit stigmatisierten Jugendlichen, Menschen in Krisen- oder Veränderungsprozessen, legasthenen Kindern oder chronisch Kranken handelt: Schreibimpulse können innerhalb von kürzester Zeit ein kraftvolles Verbundenheitsgefühl bewirken. Und das Gefühl Verbundenheit, das lehrt uns die Salutogenese, ist ein wesentlicher Aspekt, wenn es um heilsame Prozesse geht. Beschleunigt und verstärkt werden diese Prozesse, wenn das Impulsbüffet des Gesundheitsfördernden Kreativen Schreibens mit einer kräftigen Prise biografischer Anteile „gewürzt“ wird.

Ein Beispiel aus meiner Praxis ist das Impulsprogramm „Vokuhila, Löwenmähne und Co“, das ich für eine Gruppensession der Schreibseminare an der Charité konzipiert habe.


Haare haben für unsere Identität eine größere Bedeutung, als uns gemeinhin bewusst ist. Wir stylen oder missachten sie, lieben sie an guten Tagen, hassen sie an „bad hair days“, werden durch sie definiert. Sie spielen fast immer eine Rolle,
wenn es um  den vielzitierten „ersten Eindruck“ geht. Ob Männlein oder Weiblein ist dabei unerheblich, denn Haare rahmen unser Gesicht, verraten etwas über unser Alter und provozieren Zuschreibungen.

Beim Sammeln von Assoziationen und Idiomen zum Thema entstanden schon bei der ersten Übung erstaunlich viele Kategorien. Beschaffenheit, Frisurennamen, Pflegeprodukte, Haargefühle, Haartypisierungen, haarige Verwandte, Tierhaarallergien, Schmerz, Abscheu und Idiome vom „Haar in der Suppe“, den „Haaren auf den Zähnen“ hin bis zur „Geschichte mit dem langen Bart“ wurden in Rekordzeit zusammengestellt. Selbst die Evolutionsgeschichte der Behaarung fand ihren Platz in diesem bunten Kaleidoskop.

Kleine Gesangseinlage
Unbestrittener Höhepunkt der Materialsammlung war ein unvergesslicher Augenblick, als drei Teilnehmer*innen spontan den Schlager „Mädchen mit roten Haaren“ anstimmten und damit jubelndes Gelächter auslösten. Und prompt poppte bei Gleichaltrigen aus dem ehemaligen Westteil die Erinnerungen an „17 Jahr, blondes Haar“ und das Musical „Hair“ auf. Gemeinsame Erkenntnis: Über System- und Landesgrenzen hinweg sind Haare selbst in der Musik ein Thema – mit entsprechenden Zuschreibungen.

Gemeinsame Entdeckungsreise
Ist es möglich, in nur 20 Minuten biografische Stationen, Veränderungen und Entwicklungen entlang der jeweiligen Frisuren zu beschreiben? Ja, es geht!  Aus zarten Fäden wurde beim Vorlesen der nächsten Texte kreuz und quer durch den Raum ein starkes Netz geteilter Kindheits- und Jugenderfahrungen, Gefühle und Erkenntnisse gewebt.
Von der verordneten Zwangsfrisur in der Kindheit hin zur Identitätssuche mit verschieden Frisuren und Farben, zeitgeistigen Haarexperimenten und Widerstand gegen politische Verhältnisse, Zuschreibungen, Stereotypen oder dem bewussten Spiel mit Vorurteilen zeugten diese Texte. Kurze Haare – Lesbenhaare? Blondes Langhaar – kurzer Verstand? Haarsträubende Erlebnisse wurden geteilt: Das Trauma missglückter Friseurbesuche, Geschichten über per Frisuren zugeschriebene Nationalitäten, der Erkenntnis, als Frau mit kurzen Haaren ernster genommen zu werden und vielem mehr. Haare sind nicht nur ein Frauenthema, davon zeugte ein berührender Text über den Verlust der Haare im frühen Mannesalter. Identität schimmerte durch alle Zeilen, starke Persönlichkeiten, auch Verletzlichkeiten. Der Haarverlust nach einer Chemotherapie macht nicht nur den Kopf nackt. Sie stigmatisiert, markiert eine scheinbare Trennungslinie zwischen „gesund“ und „ernsthaft erkrankt“.

Der nächste Schreibimpuls ermutigte, genauer in diese dunkle Ecke der Haarbiografie zu schauen. Mit welchen Gefühlen war der Zwangsabschied vom Haar verbunden, mit welchen wurde der frische Wuchs auf der Kopfhaut begrüßt?

Ohne Angst vor Tränen in dunkle Ecken schauen
Ein schmerzhafter Prozess, sich dieser Erinnerung zu stellen. Von Seelen- wie vom Kopfhautschmerz zeugten alle Texte, die in diesem Abschnitt entstanden. Von wilder Entschlossenheit, der Krankheit möglichst keine Entscheidung zu überlassen. Fast alle Frauen hatten sich entschieden, den Chemofolgen zuvor zu kommen und sich die Haare in einem Rutsch abrasieren zu lassen. Unterstützt von Freunden, Partnern, oder dem „Haarcoach“. Doch trotz der schönsten Perücken, die kein ungeschultes Auge als solche je erkennen würde oder fröhlich bunter Tücher, markiert der Haarverlust einen schmerzhaften Schnitt. So versagte beim Vorlesen so manche Stimme, flossen Tränen. Doch immer wurde die Stimme nach einem tiefen Einatmen erneut erhoben, der Text zu Ende gelesen. Das Teilen der Gefühle, das tiefe Mitgefühl im Raum, das zuvor gespannte Netz der Empathie trug auch den Tränenfluss.
Oft sind Tränen ein wichtiger Schritt zum endgültigen Abschied von einem erlittenen Trauma. Wir erleben beim Gesundheitsfördernden Kreativen Schreiben immer wieder, wie dankbar Teilnehmer*innen sind, sich schreibend Raum nehmen zu können. Raum zum Trauern und Raum zur gegenseitigen Solidarität. Genau die entsteht, wenn man von Menschen umgeben ist, die genau verstehen, was einen gerade bewegt. Wie gut das tut, wird in den folgenden Teilnehmerstimmen deutlich:

Ich fühle mich bei mir, zwar traurig, aber auch sehr verbunden mit mir und den anderen Teilnehmern.“

 „Aufgewühlt. Hungrig. Traurig. Sehr berührt. Dankbar. Verbunden mit anderen.“

„Ich fühle mich jetzt befreiter, aufgeräumter.“

„Beeindruckt, voller Gedanken über das Gehörte“.

 „Ich hatte mit dem Kapitel abgeschlossen, denke nicht so gerne daran zurück. Allerdings nur nicht an den Anfang. Diesen Anfang hatte ich begonnen zu beschreiben und das Gefühl war auch nicht Trauer, sondern „das will ich nicht!“ Jetzt packe ich es wieder weg und mach was Schönes. Ukulele-Konzert. Alles gut!“

„Berührend zu teilen: Katharsis, Zeugin sein, schwer traurig, präsent, lebendig!“

„Etwas aufgewühlt, aber auch erleichtert. Nicht allein. Wie beruhigend und bereichert. Sehr kreativ!“

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